Der deutsche Pflichtteil - Teil der „Öffentlichen Ordnung“?
Ein britischer Staatsangehöriger verstirbt nach langer Zeit mit deutschem Wohnsitz im Inland und wählt für seine Rechtsnachfolge das Erbrecht seines Heimatlandes - unwirksam, sagt der Bundesgerichtshof. Aber …?
In dem oben genannten Fall sind wir involviert und haben sowohl die Verfahren in 1. und 2. Instanz federführend betreut, als auch das Verfahren vor dem Bundesgerichtshof begleitet.
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Auch wenn der Bundesgerichtshof als letzte zivilrechtliche Instanz gesprochen hat: Das allerletzte Wort steht noch aus. Als nächstes wird sich das Bundesverfassungsgericht mit dem Fall beschäftigen müssen. Aber der Reihe nach, was ist passiert:
Die europäische EU-Erbrechtsverordnung gibt seit August 2015 die Möglichkeit für die Rechtsnachfolge von Todes wegen das Recht des Staates zu wählen, dem die Person angehört. In unserem Fall war der Erblasser britischer Staatsangehöriger und hat in Deutschland gelebt. Er hatte einen Adoptivsohn, zu dem wenig Kontakt bestand, und bestimmte als Alleinerben für sein Vermögen ein Kinderheim.
Mittelbar war daher der Adoptivsohn testamentarisch von der (deutschen) gesetzlichen Erbfolge ausgeschlossen. Wären wir im deutschen Recht, hätte der Adoptivsohn nun seinen Pflichtteil fordern können (die Hälfte des gesetzlichen Erbteils). Der Erblasser hat aber das britische Erbrecht für seine Rechtsnachfolge (das Recht seines Heimatlandes) gewählt. Dort gibt es kein „Pflichtteilsrecht“, sondern nur sogenannte Noterbrechtsregelungen.
Man könnte sagen, dass dies ein adäquater Ersatz für die deutschen Pflichtteilsregelungen ist. Es besteht aber ein wesentlicher Unterschied:
Die Teilhabe am Nachlass des Erblassers nach dem britischen Recht ist bedarfsabhängig. Der Pflichtteil in Deutschland wird bedarfsunabhängig gewährt. Das Bundesverfassungsgericht hat hierzu bereits festgestellt, dass diese Regelungen der bedarfsunabhängigen Teilhabe am Nachlass praktisch Verfassungsrang haben.
Auch wenn die Rechtswahl nach der EU-Erbrechtsverordnung grundsätzlich möglich ist, gibt es nun dabei noch eine Einschränkung. Wenn die Rechtswahl gegen die „öffentliche Ordnung“ (ordre public) offensichtlich“ verstößt, ist sie unwirksam.
Und wenn dies bejaht wird, wären wir wieder im deutschen Recht, da der Erblasser in Deutschland verstorben ist, wo er schon lange lebte.
Dies hat schließlich der Bundesgerichtshof angenommen, da sich die Vorinstanzen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts in dieser Frage nicht einig waren. Der BGH meint, dass das deutsche Pflichtteilsrecht einen so hohen Rang genieße, dass es zur „öffentlichen Ordnung“ zählt und hat durch die Rechtswahl des Erblassers darin einen offensichtlichen Verstoß gegen diese (deutsche) öffentliche Ordnung gesehen.
Sicherlich ein Grenzfall, aber der Bundesgerichtshof hat so entschieden. Ein offensichtliches Beispiel für einen solchen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung wäre beispielsweise gewesen, wenn ein Erblasser das islamische Erbrecht, als das Recht seines Heimatlandes wählt, welches zwischen den Erben nach Geschlecht oder Religionszugehörigkeit eindeutig diskriminiert, indem z. B weibliche Erben schon einmal generell nur die Hälfte dessen erhalten, was ein entsprechender männlicher Angehöriger erben würde.
Indes stellen sich in dieser -bereits veröffentlichten und unter Erbrechtlern schon viel diskutierten Entscheidung- weitere Fragen, nämlich:
Durfte der Bundesgerichtshof das einfach so entscheiden?
Anders formuliert:
Hätte er nicht den Europäischen Gerichtshof fragen müssen, bevor er überhaupt dies entscheidet?
Denn immerhin entscheidet sich die Frage nach europäischen Regeln (der EU-Erbrechtsverordnung).
Und je nach dem, wie man diese Regeln auslegt, kann man zum einen oder zum anderen Ergebnis gelangen. Die Auslegung der europäischen Regeln, obliegt aber zunächst dem europäischen Gerichtshof. Dieser hätte womöglich angerufen werden müssen, um „Leitplanken“ vorzugeben und insoweit dem BGH zu gestatten, überhaupt die „Ausfahrt“ in das deutsche Recht zu nehmen, um den Fall dann dort zu entscheiden, wie er entschieden wurde.
Diese Frage ist mittlerweile Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde.
Denn das Grundrecht auf rechtliches Gehör wäre dann verletzt, wenn der BGH eigentlich die Rechtsfrage erst dem europäischen Gerichtshof hätte vorlegen müssen, bevor er selbst entscheidet.
In zivilrechtlichen Fragen hat der Bundesgerichtshof zwar das letzte Wort. In diesem Fall ist aber das allerletzte Wort doch noch nicht gesprochen, wenn das Bundesverfassungsgericht die Grundrechte unserer Mandantin durch das Urteil verletzt sieht.